Historisch – auf Befehl nach Warnemünde

Auf Befehl nach Warnemünde

Ende Mai 1945, wenige Wochen nach Kriegsende, erhielten die weit über 60 Jahre alten Fischer Heinrich Sager, Fiete Voß und der vierzehnjährige Fischerssohn Hans Jürgen Weber aus Kühlungsborn den Befehl der hiesigen sowjetischen Kommandantur, vor Warnemünde für die Besatzungsmacht zu fischen. Etwa drei Monate lang mussten sie sich täglich morgens um 6:00 Uhr auf dem Bahnhofplatz in Kühlungsborn-Ost einfinden, um auf einem LKW der Sowjetarmee zu ihrer Arbeit transportiert zu werden. Die Kommandantur hatte sie mit Ausweispapieren ausgerüstet, die ihnen freie Bewegung garantierten. Man kontrollierte sie ohnehin nicht, weil sie laut Anordnung Uniformen der Sowjetarmee ohne Schulterstücke trugen. Am Alten Strom in Warnemünde lag ein von der Roten Armee konfiszierter deutscher Kutter für sie bereit. Als Kutterführer hatten die Russen einen ehemaligen Oberbootsmann der Kriegsmarine eingesetzt. Doch unmittelbar nach dem Krieg traute die Besatzungsmacht den Deutschen nicht, so dass sie zum Fang nur auslaufen durften, wenn auch ein bewaffneter Rotarmist sie begleitete. Während sich die Fischer mit dem Auslegen und Aufholen der Netze sowie mit dem Sortieren des Fanges beschäftigten, saß der Soldat vorn im Schutze der Bugverkleidung und brannte in primitiven, selbstgebastelten Geräten Kartoffelschnaps, den er sorgsam in eine Flasche abfüllte und von dem die Fischer probieren  durften.

„Wir fischten nur in Sichtweite der Küste vor Warnemünde. Die Sowjets kontrollierten uns ständig von Land aus mit ihren Ferngläsern“, berichtet auf diese Monate zurückblickend, Hans-Jürgen Weber. Da der kleine Kutter mit gutem und genügend Fanggeschirr ausgestattet war und es in der Ostsee unmittelbar nach dem Krieg genug Fisch gab – der Krieg hatte die Fischerei fast zum Erliegen gebracht – war es eine leichte Tätigkeit. Schon nach zweimaligem Schleppen hatte die Besatzung zumeist ihr Tagessoll erfüllt, und dann begann an Bord die „Freizeit“. Die Männer kochten sich ein kräftiges Mittagessen, auch für den Soldaten, tranken gemeinsam den Selbstgebrannten des Aufpassers und pausierten an Deck, während der Fischerjunge Hans-Jürgen am Ruder stand, die Schiffsbewegung kontrollierte und ab und zu ein Netz hochhievte, so dass es von Land aus den Anschein hatte, als ob auf dem Kutter schwer gearbeitet würde. Am Nachmittag, so gegen vier Uhr, machten die Männer den Kutter wieder an seinem Liegeplatz fest, und ein kleiner LKW der Besatzungsmacht nahm den in Kisten sortierten Fang entgegen. Nach dem Reinigen und Aufhängen der Netze zum Trocknen und wenn erforderlich, ihrer Reparatur, wartete bereits der LKW, der sie zurück nach Kühlungsborn brachte.

Arbeitslohn erhielten die Fischer für ihre Tätigkeit nicht, dafür aber Talons der Besatzungsbehörde, die sie in der Kühlungsborner Kommandantur am Wochenende gegen Lebensmittel wie Mehl, Zucker, Kartoffeln und auch Zigaretten der Marke „Sondermischung“, die noch aus Beständen der Wehrmacht stammten, einlösten. Außerdem zweigten sie jeden Tag mehr Fisch als für den Eigenbedarf notwendig ab und nahmen ihn mit nach Hause. Diese einträgliche Tätigkeit für die Besatzungsmacht ließ sie die Zeit, in der viele Mitmenschen hungerten, gut überstehen.

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